Der Wettlauf um die erste Anzeige

Steht dem Gericht nur ein Zeuge zur Verfügung, belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass diesem in zirka 97 Prozent der Fälle geglaubt wird. Umgekehrt weiß jeder, dass es ausgeschlossen ist, dass nur zirka 3 Prozent der Zeugen irren oder lügen. Hieraus läßt sich in der Rechtspraxis der Grundsatz ableiten, einem Zeugen grundsätzlich zu glauben. 

Weiterer Erfahrungssatz ist die Illusion vieler Staatsanwälte, dass der erste Anzeigenerstatter ein glaubwürdiger Zeuge ist. In der Praxis entsteht deshalb häufig ein Wettlauf um die erste Anzeige bei der Polizei. 

Den wenigsten Laien, die eine Vorladung zur Vernehmung von der Polizei erhalten, ist die Rechtswirklichkeit bekannt, dass einem Beschuldigten grundsätzlich nicht geglaubt wird. 

In der Bevölkerung herrscht noch immer Unkenntnis über die Quote der Verurteilungen der Angeklagten von 80 Prozent. Lediglich in 3 Prozent enden die Verfahren nach langem Kampf mit einem Freispruch. 

Größtes Tabu ist die erschreckend hohe Zahl von Fehlurteilen. Folgt einem Strafverfahren ein Zivilprozess auf Schadensersatz entscheiden die Richter dieses Rechtsszuges die Schuldfrage in 30 bis 40 Prozent anders, als die Strafrichter. Nach einer Analyse des Richters am Bundesgerichtshof Eschelbach schätzt die Quote falscher Strafurteile auf ein Viertel. 

Meines Erachtens nach liegt die Schwäche des Systems in der Beurteilung von Zeugenaussagen durch Strafrichter nach Laienart ohne wissenschaftlichen Wert. Das Gegenmittel liegt in der Analyse von Zeugenaussagen nach wissenschaftlichen Kriterien. Solange der Bundesgerichtshof die alleinige Kompetenz über die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen jedoch den Tatrichtern überlässt, wird es bei der hohen Quote an Fehlurteilen bleiben. 

Gegen das Vertrauen, "es wird schon alles gut gehen", sprechen die Zahlungen von Entschädigungen für etwa 90 000 Hafttage durch die Bundesrepublik Deutschland pro Jahr. Damit sitzen statistisch an jedem Tag in Deutschland etwa 250 Menschen zu Unrecht in Haft. In Brandenburg haben nach offiziellen Angaben 2007 mehr als 13 Menschen zu Unrecht im Gefängnis gesessen. Darin ist nur die Zahl derer enthalten, 

bei denen der Staat seine Fehler anerkennt. 

Tipp: 
Wenn die Unschuld von der Beurteilung abhängt, ob ein Zeuge glaubwürdig ist, sollte unverzüglich ein Fachanwalt für Strafrecht aufgesucht werden. Grundsätzlich hat niemand die Pflicht, auf die Ladung hin vor der Polizei zu erscheinen. Gemäß § 137 Strafprozessordnung hat Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens das Recht, sich eines Verteidigers zu bedienen. Die Staatsanwaltschaft ist in der Realität keinesfalls "die objektivste Behörde der Welt". 

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